top of page

Autismus und ADHS – im Spannungsfeld der Extreme "Zwei Seelen tanzen in meiner Brust"


Innere Teamarbeit – gemeinsam an einem Tisch


Vielleicht gehörst Du auch zu den Menschen, in denen scheinbar widersprüchliche Kräfte wirken: Ein tiefer Wunsch nach Struktur, Ordnung, Vorhersehbarkeit – und gleichzeitig ein inneres Feuer, das ständig nach Freiheit, Abwechslung, Reiz und Neuem verlangt.

 

Gerade Personen, die autistische und ADHS-Merkmale in sich vereinen, kennen dieses Gefühl der inneren Zerrissenheit. Auch viele hochsensible, hochsensitive und hochbegabte Personen bewegen sich zwischen den Extremen.

 

Das ständige Pendeln zwischen Rückzug und Ausdruck, zwischen Struktur und Chaos, zwischen Reizsuche und Reizüberforderung. Es ist ein tiefes inneres Spannungsfeld, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Und genau deshalb möchte ich heute darüber schreiben:



Wie es sich anfühlt, wenn scheinbar gegensätzliche Pole gleichzeitig in einem Menschen wirken. Wie es möglich wird, aus dieser inneren Zerrissenheit in die Verbindung zu finden. Und ich möchte Dir einen Begriff vorstellen, der oft noch wenig bekannt ist – aber vielleicht einiges erklären kann: High Sensation Seeking.



Leben zwischen den Extremen


Früher war ich oft in einem Zustand innerer Anspannung. Mein Nervensystem lief dauerhaft auf Hochtouren. Ich konnte mich selbst nie wirklich zufriedenstellen. Mein Leben war geprägt von Leistungsdruck.


Das ging auf Kosten meiner sozialen Kontakte – denn ein großer Teil meiner Energie floss in die ständige Suche nach Weiterentwicklung, nach Selbstoptimierung, nach Antworten. In der Schule und später im Studium war ich außerdem permanent damit beschäftigt, das aufzuholen, was mir durch meine Konzentrationsschwierigkeiten entglitten war. Themen, die bei anderen scheinbar mühelos ankamen, lösten sich als unübersichtlicher Informationsstrom förmlich vor mir auf. Trotzdem versuchte ich krampfhaft mitzuhalten und war gleichzeitig ständig erschöpft.
Die Folge: Ich funktionierte – aber ich lebte nicht wirklich.

 

Heute, nach vielen Jahren intensiver innerer Arbeit, bin ich deutlich mehr bei mir angekommen. Ich vergleiche mich nicht mehr ständig, ich bin weniger im Außen. Stattdessen gestalte ich mir sukzessive ein Leben, das im Einklang mit meinen neurodivergenten Bedürfnissen steht – Bedürfnissen, die ich mit jedem Moment bewusster wahrnehmen und annehmen kann.

 

Und obwohl ich mir heute regelmäßig Pausen, Auszeiten und Me-Time-Inseln erschaffe, gibt es da immer noch diesen krassen Anteil in mir, der einfach nicht still sein kann. Der Herausforderungen sucht, Neues erleben will – mein innerer Sensation Seeker.



💡 High Sensation Seeking: Im psychologischen bzw. neurodiversen Kontext beschreibt dies das starke Bedürfnis nach neuen, intensiven oder abwechslungsreichen Erfahrungen – sei es physisch, sozial, emotional oder intellektuell. Es ist die Suche nach ständiger Abwechslung, nach Abenteuern – oft aus einem inneren Drang heraus, sich lebendig zu fühlen. Dieser Aspekt ist besonders häufig bei AD(H)S zu finden und steht oft im Gegensatz zu einem hohen Bedürfnis nach Sicherheit, Routinen und Ruhe, wie es viele Menschen im neurodivergenten Spektrum (insbesondere Autismus und Hochsensibilität) eben auch erleben.

 

Und genau hier wird es spannen(d): Beide Anteile sind da. Gleichzeitig. Beide fordern Raum. Beide sind echt. Beide sind laut. Und es fühlt sich an, als würden sie in völlig verschiedenen Sprachen auf einen einreden. Der eine ins eine Ohr, der andere ins andere... puhhhh... Wie kann das gut gehen? 

 

Diese Ambivalenz auszuhalten, war lange Zeit schwer für mich. Ich habe krampfhaft versucht, mich für eine Seite zu entscheiden. Mal war ich ganz im Rückzug, dann wieder im Aktionismus – beides mit aller Konsequenz. Doch nachhaltig war das nicht. Und mit Selbstliebe hatte das auch nichts zu tun, denn ich musste ja immer einen Teil von mir ablehnen.

 

Der Wendepunkt kam, als ich aufgehört habe, diese inneren Anteile gegeneinander auszuspielen – und stattdessen anfing, ihnen zuzuhören.

 

Ein zentrales Werkzeug, das mir dabei geholfen hat – und das auch ein fester Bestandteil meiner Coachings ist – ist die Arbeit mit dem inneren Team.



💡 Innere Teamarbeit (auch „Anteilarbeit“ genannt) beschreibt eine Methode, in der man die verschiedenen inneren Stimmen, Bedürfnisse und Persönlichkeitsanteile bewusst wahrnimmt und in den Dialog bringt. Diese Anteile können ganz unterschiedlich sein: laut, ängstlich, euphorisch, kritisch, kreativ… Und sie alle haben ihre Berechtigung.

 

Also... ich sehe meine Anteile bildlich vor mir, setze mich innerlich mit ihnen an einen Tisch und höre zu. 
Nicht bewerten. Einfach zuhören.

 

Dem ADHS-Anteil.


Dem autistischen Anteil.


Dem Sensation Seeker.

...

 

Und dann passiert oft das:
Die Unruhe fängt an sich zu legen. Weil sich jeder Anteil gesehen fühlt.
Und es entsteht ein wohlwollender, innerer Dialog. Denn: Wer sagt, dass der eine den anderen ausschließen muss? Das Leben ist ja auch nicht schwarz oder weiß. Sondern es geht um die Farbakzente, die wir setzen.

 

Jeder Tag ist ein anderer Tag. Ich selbst bin ja im ständigen Wandel. Mal geht es mir so und mal so, abhängig vom Wetter, von meinen Hormonen, vielleicht auch vom Mondzyklus... who knows? Zumindest von vielen verschiedenen (teilweise unvorhersehbaren) Variablen... Deshalb frage ich mich immer wieder neu: Was brauche ich heute? Mehr Struktur? Mehr Geborgenheit durch vertraute Routinen? Oder vielleicht einfach nur eine Pause mehr als gestern?

Oder ist es eher eine Herausforderung, die ich suche? Einen neuen Impuls? Das Infragestellen einer alteingesessenen Gewohnheit, die heute vielleicht gar nicht mehr passt?
Und wenn ich gerade voller Freude und im Flow bin – warum dann eine Pause erzwingen? Vielleicht ist sie ein andermal dran. Ich bleibe flexibel.

 

Wenn wir unseren scheinbar widersprüchlichen neurodivergenten Anteilen wirklich zuhören – ganz im Hier und Jetzt – entsteht ein Gefühl von Einheit.

 

Jeder Anteil in mir wird gehört. Jeden Tag. Jeden Moment. Und zwischendurch.

 

Ich glaube, das haben sie verdient. Und wir auch. 
Aus der Zerrissenheit in die Einheit.




Sensation Seeker im Berufsleben


Gerade im Zusammenspiel mit Neurodivergenz zeigt sich das Phänomen des High Sensation Seeking besonders häufig. Menschen mit dieser Ausprägung bringen oft eine außergewöhnliche Vielseitigkeit mit – ihre breite Berufserfahrung, gepaart mit einer ausgeprägten Kreativität, macht sie zu echten Impulsgeber*innen in Teams und Unternehmen. Sie denken quer, bringen neue Perspektiven ein und finden ungewöhnliche Lösungswege – das ist ein riesiger Schatz, gerade in komplexen, dynamischen Arbeitsfeldern.

 

Doch genau diese Lust auf Neues, auf Veränderung, auf immer wieder andere Erfahrungen im Berufsleben, kann auch zur Herausforderung werden: Viele High Sensation Seeker haben einen Lebenslauf mit zahlreichen Wechseln. Was eigentlich Ausdruck ihrer Vielseitigkeit und Weiterentwicklung ist, wird im klassischen (veralteten) Bewerbungsprozess manchmal als mangelnde Beständigkeit interpretiert. Und das kann – vor allem, wenn das eigene neurodivergente Profil noch nicht bewusst gelebt wird – zu Selbstzweifeln führen.

 

Und zusätzlich kommt bei vielen neurodivergenten Personen eine jahrelang erlernte Kompensation hinzu: das ständige Masking, Sich-Anpassen, das Ausbalancieren sozialer Codes und das Gefühl, funktionieren zu müssen. Der sogenannte Hyperfokus – also das tiefe Eintauchen in Themen – wirkt nach außen wie ein Superpower. Und ja, manchmal ist er das auch. Aber: Wenn dieser Fokus nicht aus innerer Freude, sondern aus Druck, Angst oder einem tief verankerten Perfektionismus heraus entsteht, dann brennt er uns regelrecht aus. Viele merken erst zu spät, wie erschöpft sie sind. Wie sehr sie über ihre Grenzen gegangen sind. Wie sehr sie sich selbst auf der Strecke gelassen haben. 90% (!) meiner Klient*innen kommen mit einem Burnout zu mir oder stehen kurz davor. Und das ist kein persönliches Versagen. Sondern eine veraltete Arbeitswelt, die bisher keinen Raum für neurodivergente Besonderheiten geschaffen hat.

 

In meinem Berufungscoaching geht es darum, zu erkennen, wer Du wirklich bist – jenseits von Erwartungen, Masken und Leistungsdruck. Es geht darum, Deinen eigenen roten Faden zu finden, Deine innere Wahrheit zum Ausdruck zu bringen – um daraus ein berufliches Leben zu gestalten, das Dich nicht auszehrt, sondern nährt.

 

Du musst nicht über Deine Grenzen gehen, um gesehen zu werden. 
Du darfst echt sein. Und wirken – aus Deiner Kraft heraus.


© Clara Chill
Mensch? It's a long story...

 
 
bottom of page